Gefährlicher Trend zum Zeugnis-SelberschreibenWas in Konzernen eher eine Ausnahme ist, wird in vielen kleinen Firmen tagtäglich praktiziert: Mitarbeiter schreiben sich das Zeugnis gleich selbst. So auch Frank Murrmann (Name geändert). Als die Werbeagentur, bei der er eineinhalb Jahre Webkonzepte entwickelt hatte, einen Antrag auf Insolvenz stellte, gab es gleich eine Ansage an alle Mitarbeiter: „Schreibt schon einmal eure Arbeitszeugnisse“. Frank Murrmann suchte sich aus dem Internet die besten Formulierungen zusammen. Das Ergebnis war eine dreieinhalbseitige Aneinanderreihung von Superlativen. Viel zu lang und absolut unglaubwürdig. Nach einem Jahr vergeblicher Jobsuche ließ er das Zeugnis prüfen. Das vernichtende Urteil: Ein Gefälligkeitszeugnis, frei nach Motto: Wenn wir euch schon kündigen müssen, dann wollen wir euch wenigsten keine Steine in den Weg legen. Das hat sein ehemaliger Arbeitgeber auch nicht getan. Wie ein meteoritengroßer Brocken lastet diese Zeugnis jetzt in seiner Bewerbungsmappe. Änderungen ausgeschlossen. Die Firma gibt es nicht mehr.
Wer Arbeitszeugnisse entschlüsseln will, muss die spezielle Sprache dieser Texte kennen und verstehen. Manchmal sind es nur kleine sprachliche Nuancen, die ein Arbeitszeugnis in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Für einen Laien sind sie kaum zu erkennen, dem neuen Arbeitgeber fallen sie jedoch sofort ins Auge. Deshalb gilt: Arbeitszeugnisse lesen und interpretieren ist Expertensache. Und Änderungswünsche sollten so schnell wie möglich beim Arbeitgeber angemeldet werden. Grundsätzlich hat jeder Arbeitnehmer nach Ende eines Beschäftigungsverhältnisses einen Anspruch auf ein inhaltlich korrektes und verständlich formuliertes Zeugnis. Generell gilt, dass die Zeugnisbewertungen das berufliche Fortkommen eines Arbeitnehmers nicht ungerechtfertigt erschweren sollen. Versteckte Kritik dürfte es daher eigentlich nicht geben. Andererseits aber sollen Arbeitszeugnisse auch wahr sein. Sind sie es nicht oder enthalten sie gar versteckte Codes, drohen dem Ex-Arbeitgeber hohe Schadenersatzforderungen. Und deshalb gibt es sie doch, die positiv klingenden Sätze, die aber negativ gemeint sind.
„Klingt ja komisch“, dachte auch Anja Rabenmeister, als sie folgende Formulierung in ihrem frisch ausgestellten Zeugnis entdeckte: „Die Aufgaben, die ihr übertragen wurden, führte sie zielstrebig aus.“ Sie überlegte hin und her, fragte Freunde, was diese von dieser Formulierung hielten und traf letztendlich die einzig richtige Entscheidung: Sie ließ das Zeugnis von einem Experten begutachten. Für den stand schnell fest, was sich hinter dieser Formulierung verbarg: Ein „versteckter“ Hinweis auf mangelnde Eigeninitiative. Das wollte Anja Rabenmeister nicht auf sich sitzen lassen. Sie ging in die Offensive und sprach noch einmal mit ihrem ehemaligen Vorgesetzten. Beide einigten sich – ohne Einschaltung eines Arbeitsgerichtes – auf eine Änderung der Formulierung. „Mit guten Argumenten und den Formulierungsalternativen des Zeugnisexperten an der Hand hatte ich gute Karten bei meinem Chef“, resümiert die junge Frau. „Häufig sind vor allem Arbeitgeber in kleineren Betrieben überfordert beim Erstellen eines Arbeitszeugnisses – auch wenn sie gute Noten geben wollen“, betont Tim Böger von der Karriereberatung PersonalMarkt. Heraus kommt das, was Experten ein „Laienzeugnis“ oder „Dilettantenzeugnis“ nennen – ein ohne böse Absicht, aber mit wenig Fachkunde erstelltes Zeugnis, das sich für den Mitarbeiter eher hinderlich als förderlich für den weiteren beruflichen Weg erweist.
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